Ein Zuhause auf Zeit

Wenn das Wort Kinderheim fällt, denken die meisten Menschen an große Schlaf- und Speisesäle. Dabei gibt es solche Einrichtungen schon längst nicht mehr. Heute bieten Träger der Jugendhilfe den Kindern stattdessen in familiären Gruppen ein Zuhause auf Zeit. Doch die Rahmenbedingungen dafür werden immer schwieriger: Obwohl der Bedarf wächst, gibt es einen Mangel an Personal.

Wenn Dennis Rebbe fachfremden Besuchern seinen Arbeitsplatz zeigt, sorgt das meist für Überraschung. „Viele haben das Bild von einem sterilen Kinderheim im Kopf, und sind dann ganz begeistert, wie gemütlich es bei uns ist.“ In der Wohngruppe der Jugendhilfe Bethel in Bielefeld sieht es aus wie in einem ganz normalen Einfamilienhaus. Im Wohnzimmer steht ein großer Fernseher, daneben liegt eine Playstation, und drei Sofas mit roten Kissen laden zu gemütlichen Filmabenden ein. Topfpflanzen und bunte Papierdrachen an den Fenstern sorgen für herbstliche Stimmung. Und auch „Familienfotos“ hängen an den Wänden: Bilder von einer Kanu-Fahrt und dem Holland-Sommerurlaub der Gruppe. Nur der Tisch im Esszimmer fällt auf, weil er überdurchschnittlich lang ist. Denn er muss Platz für sieben Jugendliche im Alter zwischen 14 und 19 Jahren sowie Dennis Rebbe und seine Kolleginnen und Kollegen bieten. Sie betreuen die Mädchen und Jungen abwechselnd rund um die Uhr. „Wir machen hier viel, was Familien auch so unternehmen und versuchen, ihnen einen Ort anzubieten, an dem sie gerne sind“, erklärt der Pädagoge.

Klassische Kinderheime waren einmal: Heute leben die Kinder und Jugendlichen in dezentralen Wohngruppen zusammen.

Wie in einer Familie

Großeinrichtungen wie die früheren Kinderheime gebe es schon seit 20 Jahren nicht mehr, erklärt Andreas Wilke, Einrichtungsleiter der Jugendhilfe Bethel in Bielefeld. Früher lebten bis zu 100 Kinder zusammen in einem Gebäude. Sie wurden von einer zentralen Großküche versorgt und in einer Kleiderkammer ausgestattet. Heute leben sieben bis neun Kinder und Jugendliche in Häusern oder Wohnungen zusammen, die oft über das Stadtgebiet verstreut sind. Hinzu kommt, dass die Wohngruppen bei den Trägern der Diakonie in ein ganzes Hilfesystem eingebunden seien, erklärt Kerstin Schwabl, Referentin für Erzieherische Hilfen beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL). So gibt es zum Beispiel Fachkräfte, die ältere Jugendliche und junge Erwachsene ambulant in Wohngemeinschaften oder in der ersten eigenen Wohnung betreuen. Auf diese Weise wird der Übergang in die Selbstständigkeit ermöglicht. 

Vorübergehend geschlossen

In den seltensten Fällen seien die Kinder und Jugendlichen, die in den Wohngruppen leben, Waisen, sagt Schwabl. In der Regel handele es sich um Kinder, deren Eltern aus verschiedenen Gründen nicht hinreichend für sie sorgen könnten. Oder aber die Kinder wurden vom Jugendamt in Obhut genommen, weil ihr Wohl gefährdet war. Immer öfter brauchen Kinder und Jugendliche ein Zuhause auf Zeit außerhalb ihrer Familie. „Der Bedarf nimmt zu“, beobachtet Schwabl. Und die Nachfrage nach den Angeboten werde weiter steigen, erwartet sie. „Wir wissen, dass da ein immenses Paket von Kindern und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf auf uns zukommt.“

Im Rahmen unserer Erzieherischen Hilfen werden die Kinder und Jugendlichen individuell unterstützt.

Zugleich werde es für die Träger aber immer schwieriger, ihre Hilfsangebote aufrecht zu erhalten, weiß Schwabl. Grund ist der Mangel an pädagogischem Personal, der sich schon seit einigen Jahren bemerkbar mache. „Derzeit dramatisiert sich die Situation noch einmal durch den Ausbau von Kita-Plätzen und des Offenen Ganztags in den Grundschulen“, erklärt Schwabl. Im Konkurrenzkampf um die Fachkräfte habe die Jugendhilfe oft das Nachsehen, vor allem weil hier Kinder im Schichtdienst rund um die Uhr betreut werden müssten. Die Folge: „Wir haben jetzt schon bei einigen Trägern die Situation, dass Wohngruppen – zumindest vorübergehend – schließen müssen, weil es zu wenig Personal gibt“, beobachtet Schwabl. Jugendhilfe-Einrichtungen anderer Träger gehe es ähnlich. Insgesamt seien in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen drei Jahren fast 3.000 stationäre Wohnplätze für Kinder und Jugendliche verloren gegangen, sagt Schwabl. „Das hat gravierende Folgen.“ Denn die Jugendämter hätten schon jetzt teilweise Probleme, in Obhut genommene Kinder und Jugendliche unterzubringen.

Durch Krisen begleiten

Beim Werben um Fachkräfte hätten die Jugendhilfe-Einrichtungen einen weiteren Nachteil, beobachtet Schwabl. „Das Arbeitsfeld ist zu wenig bekannt.“ Das kann auch Dennis Rebbe bestätigen. „Wenn ich Menschen erzähle, wo ich arbeite, können sich das viele gar nicht so richtig vorstellen.“ Oftmals werde er angesprochen, ob sein Job nicht sehr belastend sei. „Klar kann das auch mal belastend sein, wenn man Jugendliche durch größere Krisen begleiten muss“, räumt der Pädagoge ein. „Aber wir haben hier ja auch schöne Zeiten mit den Jugendlichen.“ Tischtennis, Filmabende, Kaffeetrinken in der Stadt oder gemeinsames Kochen am Wochenende – Dennis Rebbe und seine Kolleginnen und Kollegen unternehmen mit ihren Schützlingen all die Dinge, die auch intakte Familien ihren Kindern bieten. Das Schöne an seinem Job: „Er ist absolut sinnstiftend“, sagt der 30-Jährige. Dennis Rebbe denkt dabei zum Beispiel an den Fall einer 14-Jährigen, die er und seine Kolleginnen und Kollegen nach einem Suizidversuch jahrelang durch schwierige Zeiten begleiteten. Doch am Ende schaffte sie ihren Schulabschluss, absolvierte eine Ausbildung im Gastronomie-Bereich und lebt heute in einer eigenen Wohnung. „Solche Erfahrungen erfüllen einen“, freut sich Rebbe.

Anspruchsvolle Arbeit

Die Arbeit in der Jugendhilfe sei anspruchsvoll, bringe aber auch tolle Erfolgserlebnisse, betont auch Andreas Wilke. Zudem würden die Mitarbeitenden nicht allein gelassen. „Ich glaube, in keinem anderen Bereich wird man so gut unterstützt.“ Neben Supervisions- und Beratungsangeboten böten Träger wie die Jugendhilfe Bethel mit ihren verschiedenen Arbeitsbereichen auch zahlreiche Möglichkeiten der Qualifizierung. Dennoch rechnet auch Wilke damit, dass sich die Personalknappheit verstärkt. „In den nächsten fünf Jahren gehen viele Mitarbeitende in den Ruhestand.“

Chance für Quereinsteiger

Um den Personalmangel zu lindern, wünscht sich Kerstin Schwabl vor allem bessere Bedingungen für Quereinsteiger. Die Einrichtungen der Jugendhilfe dürfen grundsätzlich nur ausgebildete Fachkräfte beschäftigen. In manchen Fällen interessierten sich aber Menschen für die Arbeit in den Einrichtungen, die bereits eine andere Ausbildung absolviert haben und gerne umschulen würden. Oftmals scheiterten die Pläne aber daran, dass die Interessenten während der Ausbildungszeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten. Hier könnte ein Quereinsteiger-Programm Abhilfe schaffen, dass es Menschen ermögliche, sich parallel zur Arbeit in einer Einrichtung zu qualifizieren, sagt Schwabl. Auch die Zulassung weiterer Berufsgruppen wie etwa Ergotherapeuten für die Arbeit in der Jugendhilfe könnte die Personalnot etwas lindern, sagt Andreas Wilke. Fest stehe, dass die Rahmenbedingungen verbessert werden müssten, fordert Schwabl: „Weil wir für Kinder und Jugendliche arbeiten, die unsere Zukunft sind.“

Text: Claudia Rometsch (online erschienen am 18. November 2022)

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